Weniger vom Tier essen

Gemüse und Kräuter

Ende diesen Jahres schliesst das vegane Lädeli in 200m Entfernung. Schade. Und auch nicht: Denn in Coop und Migros, die sein Geschäft vermiest haben, gibt es unterdessen auch Haferdrink und Erbsenhack.

Parallel zur Reise, die pflanzenbasierte Ernährung in der letzten Dekade gemacht hat – von randständig auf die Schwelle zum Mainstream – habe ich selbst von fast jeden Tag Fleisch auf fast nie Fleisch umgestellt. Dazu ein paar Gedanken.

Es braucht einen Schubse

Dass mein Konsum tierischer Produkte auf keine Kuhhaut ging, wusste ich eigentlich schon lange. 2010 habe ich in einer Tabelle einen Monat lang festgehalten, was ich so esse. Mit dem Hintergedanken, als rationaler Mensch würde mich Transparenz zum Umsteuern bringen. Aber in der Tabelle von 2016 ist der Fleischkonsum noch auf demselben Niveau.

Gewohnheiten sind hartnäckig. Und wir sind Meister darin, kognitive Dissonanz zu minimieren.

2019 war mein Fleischkonsum auf die Hälfte gesunken, unterdessen beschränkt er sich auf wenige Mahlzeiten im Monat. Was ist passiert?

Rückblickend wohl: Verstärktes Interesse für Klimafragen. Und Inputs von Menschen um mich herum. Zum Teil nebenbei (Für mich kein Fleisch, danke.), zum Teil konfrontativer: Du weisst schon, woraus diese Wurst ist? Ausserdem hat die Veränderung der Wohnsituation geholfen und die Verfügbarkeit von Alternativen: Cashew-Streichkäse, gepflanztes Poulet, Eifrei-Salat.

Eigentlich lieber ohne: Umgewöhnen ist menschlich

Das erste Mal Bier, das erste Mal Kaffee: Liebe auf den ersten Blick ist anders, oder? So war auch mit Tofu (fad!) oder Sellerie-Piccata (Betrug!) nicht von Zuneigung geprägt. Heute schaufle ich Rauchtofu, Rührei-Tofu und solches mit getrockneten Tomaten mit Freude in mich hinein.

Fleisch schmeckt uns, weil es Umami vom Feinsten ist. Es zu mögen ist einfach. Es liegen zu lassen ist kein Fingerschnippen, aber auch keine Hexerei (Republik). So wie man Bier und Kaffee auch beim dritten Mal schon viel lieber mochte, lernt man auch Tofu lieben.

Good news: Das ist einfacher als auch schon. Es gibt eine grössere Auswahl an Alternativen als je zuvor. Und: Neues entdecken macht Spass. Das muss nicht Fake-Fleisch sein, sondern vielleicht auch ein gebackener Blumenkohl. Hummus. Rösti mit getrockneten Tomaten und Rucola.

Es hilft, sich zusammen auf die Reise zu begeben, um sich gegenseitig anzuspornen, neue Rezepte oder Produkte zu finden, die neue Geschmackswelten erschliessen.

Eine Ernährungsumstellung birgt auch die Möglichkeit, sich Gedanken über die eigenen Essgewohnheiten und die Zusammensetzung des Essens zu machen. Klingt vielleicht erst einmal anstrengend, aber lockt mit Erkenntnissen. Wer den Dingen gern auf den Grund geht, ist im Vorteil. Welche Art von Essen mag ich eigentlich? Was ist es, das ich daran mag? Und was ist denn der Clou an diesem Gericht? Zum Beispiel Lasagne: Ist es wirklich das Fleisch? Oder die Verbindung von cremig, salzig, kohlenhydratig und Umami? Und wie könnte man das ohne Tier hinkriegen?

Und plötzlich hört man sich sagen: Eigentlich sagt mir Fleisch gar nicht mehr so viel.

Ich und die andern: Sozialpsychologie knocks

Was man isst, hängt mit dem eigenen Umfeld zusammen. Deshalb ist uns unser Essen auch so nah. Es gehört einfach dazu. Freunde, Familie, Identität.

Als clevere Äffchen denken wir gern, wir seien extrem rational. Stellt sich heraus: Wir sind zwar clever, aber unterschätzen gern, dass wir Gruppentiere sind. So habe ich die soziale Dimension des Essens anfangs als Kraft unterschätzt, die Normen schafft, aber auch Veränderung bewirken kann. Unterdessen sehe ich den Wunsch anderer Menschen, sich konsequent zu verhalten (genau, kognitive Dissonanz) und nicht abseits zu stehen aus anderer Warte. (Ohne mir viel darauf einbilden zu wollen. Hinter mir steht ja auch wieder eine Gruppe.)

Einerseits drängt sich mir zuweilen die Dissonanz auf, wenn mir wieder einmal bewusst wird, dass der Konsum von Fleisch und Milchprodukten in weiten Kreisen die Norm sind. Und dass von denen, welche in der Mehrheit sind, nicht im selben Masse verlangt wird, sich zu ihren Essensvorlieben zu verhalten. Es beginnt bei mir zu rattern: Bin ich hier der Seltsame!? Haben sie vielleicht doch recht, und das Getue um vegivegan ist ein auch etwas Reinheitsgetue und Verhältnisblödsinn? Dann rufe ich mir wieder in Erinnerung: Nee, gibt schon gute Gründe. Ich hab mir das ja gut überlegt. Und ich kenne auch andere Leute, die ich für schlau halte, die das sagen. Und die Argumente der Fleischis klingen schon arg nach Rechtfertigung. (Wie bei mir bis vor einigen Jahren 😬)

Es gibt Reihe von Aussagen, die mir immer wider begegnen. Ich erkläre sie mir als Bereinigung kognitiver Dissonanzen, bei der ich einbezogen werde – und ich meine das überhaupt nicht böse! Total legitim. Machen wir alle. Und ist auch ein Zeichen dafür, dass wir keine Steine sind, sondern Gefühle und Gedanken haben. Das ist gut. Darauf können wir bauen. Eine Gesellschaft. Eine nachhaltige Gesellschaft, vielleicht.

  • Der Fluch des Flexitariers, pt. 1: «Du bist doch vegi, warum isst du jetzt Fleisch!?» (im Fleischrestaurant – wobei ich nie sage, ich esse kein Fleisch, sondern «Ich esse fast nie Fleisch» oder «lieber kein Fleisch»). Wenn ich es richtig höre, schwingt hier mit «du brauchst/magst es eben doch, sei doch ehrlich» oder «wenn nicht mal du konsequent bist, muss ich mir keine Gedanken machen». Klingt für mich nach Rechtfertigungsstrategie über moralische Abwertung des Gegenübers.
  • Der Fluch des Flexitariers, pt. 2: «Und dann koche ich uns ein schönes Stück Fleisch zur Feier des Tages…» – «Wegen mir braucht’s das nicht, aber das weisst du ja» – «Aber ist ein sehr Gutes! Teuer! Und bio! Und lokal!» – Freut mich durchaus, dass sich jemand Gedanken macht, was für Fleisch man isst, aber fühlt sich auch sehr danach an, als ob ich zum Komplizen und Absegnenden des Fleischkonsums gemacht werde.
  • Ähnlich der Kommentar «Ah du bist Vegi! Ich esse imfall auch nicht immer Fleisch!» – Cool! Aber auch etwas lustig, dass man als Nicht-(oft)-Fleisch-Essende:r gleich zum moralischen Bewusstsein, das über der Szene schwebt, stilisiert wird.
  • Am offensichtlichsten ist die kognitiven Dissonanz, wenn ihr jemand direkt Ausdruck verleiht und in die Offensive geht: «Was macht das schon aus im Vergleich zu anderen Emissionen», oder «Pflanzenbasiertes Essen ist gar nicht besser fürs Klima, wenn die Kuh in den Alpen und das Soja aus Brasilien etc. pp.» – ich kann gern noch einmal darauf hinweisen, dass pflanzenbasierte Ernährung viel Treibhausgase, ruinierte Böden und Wasserknappheit vermeidet – im Durchschnitt. Es ist unmöglich, das für jede Kuh durchzurechnen. Wir können natürlich Whataboutism spielen, aber der grösste individuelle Hebel neben Mobilität ist nun mal Ernährung. Wenn dann noch «Das ist nicht gesund! Der Mensch braucht tote Tiere! Schon die Höhlenmenschen…» kommt, kriege ich fast Mitleid, wie verwundbar sich jemand machen kann, wenn die eigenen Glaubenssätze davonschwimmen.

Wenn das nach Klage klingt: Soll es nicht sein. Solang wir reden, besteht die Chance, Piekse, Schubse und Einladungen zu verteilen. Scheinbar besteht mein Beitrag zur Proteinwende zum Teil darin, dass andere Dinge auf mich projizieren, die ich dann spiegeln darf.

Ich werfe das niemandem unaufgefordert vor die Füsse. Nicht mein Style. Aber ich bin der Meinung: Die, die das tun, braucht es auch. Die kognitive Dissonanz gezielt verstärken. Wie die Freundin, die mich auf meine Inkonsequenz hinwies. Und dann braucht es die, die es ruhig, bestimmt und unbestechlich vorleben. Damit Bekannte sehen: Aha, das geht ja auch.

Geile Pflanzen sind geil

Ist das noch Verzicht oder schon geil? – Naja, beides halt. Die gute Nachricht: Vieles, was gut schmeckt, war schon immer vegetarisch oder vegan, und noch mehr Gutes wartet darauf, entdeckt zu werden.

🫶 Frittieren und braten geht immer. Röstaromen brauchen kein Tier.

🥗 Wie qail sind eigentlich Salate!? Sellerie mit Apfel, Randen (Bete), Linsen, Kartoffeln, Tomaten, dazu Pilze, Kernen und Croutons… Interessante Menus leben nicht nur von Fett, Salz und Umami, sondern auch von Abwechslung. Man kombiniere fünf verschiedene Gemüse (zur Not aus der Büchse), et voilà.

🧄 Gewürze sind Pflanzen! Bölle, Chnobli, Ingwer, Paprika, Kumin… minimaler Aufwand, maximaler Effekt.

🍕 Grazie, Italia! Mediterrane Küche ist gesund, schmackhaft und kommt über weite Strecken ohne Tier aus: Pizza funghi, Pasta al pesto, Lasagne alla verdura… Und wer etwas mehr Zeit hat: Parmigiana, im Original übrigens ohne Käse. So viel Umami, dass die Grossmutter fragt: Was ist da für Fleisch drin?

🥓 Ersatzprodukte sind ziemlich gut geworden. Man muss sich durchprobieren, denn Geschmack ist Geschmackssache. Ich weiss unterdessen, welchen "Speck", Aufschnitt, Haferdrink, "Schinken, "Rahm", "Sauerrahm", welches Hack, "Poulet" und welche Nuggets mir munden.

Also: So schwer ist es nicht. Und wenn auch nicht die Rettung der Welt, dann doch das Richtige.

Kim   •   29.12.2023   •   abgelegt unter  
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