Anders Levermann, Physiker und Klimawissenschaftler, führt im Buch Die Faltung der Welt nicht nur aus, wie es ums Klima steht, sondern präsentiert auch ein Narrativ und Lösungsansätze.
Abriss
Das Buch verknüpft Ideen aus mehreren Gebieten:
- Aus der Klimaforschung, wo Levermann zu Hause ist, kommt das Konzept der Grenzen.
- Aus der Mathematik die Selbstverstärkung.
- Aus der Wirtschaft das Wachstum.
Die Unverrückbarkeit planetarer Grenzen, deren Überschreiten Systeme aus der Balance bringt und selbstverstärkende Prozesse sowie das Erreichen von Kipppunkten zur Folge haben kann, führt zur Grundidee des Buchs: Wir müssen fixe Grenzen setzen. Dadurch entstehe eine neue Art des Wachstums – Die Faltung. Diese kann man sich als tausendfaches Abprallen eines kleinen Balls innerhalb einer grossen hohlen Kugel vorstellen: Es ergeben sich diverse Flugbahnen und unzählige neue Möglichkeiten – Wachstum nach innen, gleichzeitig aber auch Wachstum in die Vielfalt.
Levermann schlägt fünf Faltungsgrenzen vor:
- Ende der Verbrennung fossiler Energieträger
- Ende des Rohstoffabbaus
- Begrenzung der Unternehmensgrösse
- Begrenzung des Erbes
- Begrenzung des Einkommensunterschieds
Das Buch lässt sich leicht lesen – wenn man einigermassen mit Klima, Wirtschaft, Mathe und Politik vertraut ist, gibt es allerdings wenig Neues (mal von der Idee der Faltung abgesehen).
Empfehlung? – Nun: (Warnung: kann Spuren von Polemik enthalten)
Yes 👍
Die Vogelperspektive rückt das grosse Ganze ins Bild: Wir müssen aufhören, Fossile zu verbrennen. Punkt. Die Unterscheidung zwischen flachen und tiefen Kreisläufen ist ein gutes Denkgebäude dafür.
Dass der Tanz ums Klima wegen unverrückbaren Grenzen nötig ist, wird ebenfalls anschaulich vor Augen geführt (ist jedoch nicht neu, wenn man sich etwas mit Emissionsbudgets und Kipppunkten auseinandergesetzt hat).
Die vorgegebene Richtung beinhaltet viele gute Ansätze – zum Vorgehen (vorgeben wohin statt Micromanagement), zum Vibe (optimistisch: den Moonshot versuchen, nicht alles zerreden) und zu konkreten Policies (Faltungsgrenzen).
Naja 🤷
Die zentrale Idee der Faltung ist keine schlechte Metapher, aber viel mehr auch nicht. Ist qualitatives Wachstum nicht ungefähr dasselbe…?
Einige Vorschläge (Faltungsgrenzen) sind durchdacht und gut hergeleitet, andere sind meines Erachtens weniger zwingend und kontextualisiert. Als Ausgangspunkt für Diskussionen taugen sie allemal.
Der Zusammenhang der fünf Vorschläge bleibt etwas unklar. Joa, gesellschaftlicher Zusammenhalt ist wichtig und Klimapolitik geht nicht isoliert von Sozial- und Demokratiepolitik, aber mit dem Themenwechsel zu Erbe und Einkommen driftet der Fokus etwas ab.
Braucht’s mich bei diesem Meeting…? 🙄
Forderungskataloge sind gut und recht. Irgendjemand muss irgendwann einen aufstellen, wenn es konkret werden soll. Die Frage ist halt, an wen man die Forderungen stellt. Persönlich sehe ich es ähnlich wie Regula Rytz: Mir ist eigentlich egal, ob wir Verbote, Lenkungsabgaben oder Absenkpfade nutzen, solang sie etwas bringen. Deshalb dünkt mich der Effort, bestimmte Policies oder einen definierten Massnahmenstrauss als das (einzige) richtige Vorgehen zu framen, oft etwas vergebene Mühe – müssen wir am Schluss nicht eh einfach alles machen und fürs Erste einfach mal irgendwo anfangen?
Aus demselben Grund scheint mir die Gegenüberstellung von "weniger" und "null" seltsam – jaja, ich versteh schon, das Narrativ "auf null!" (Neues Denken für eine bessere Welt!) ist sexier als das Narrativ "weniger" (Verzicht). Aber der Zug bleibt nun mal emissionsärmer um Faktor 10 plus, während ein mit Strom betriebenes 2t-Stahlauto immer noch auf die Hälfte von einem mit verrotteten Dinos betriebenen Auto kommt. Solche Innovation bringen also erst im Viererpack etwas (2 hoch 4, bin ich jetzt auch cool, Herr Mathematiker?). Manchmal ist langweilig besser als neu. Und meistens schliesst es sich nicht aus. Sie gegeneinander auszuspielen aufgrund kruder Zuordnungen ist Marketinggelaber. Ohne Framing geht’s nicht, aber die Realität, dass Autos und Fliegen ein Ressourcenverschleiss sind, lässt sich nicht wegframen.
Die Adressat(-innen?) von Levermann scheinen hingegen Teilnehmende von ganz wichtigen Meetings zu sein, und ja, zu denen muss jemand eine Brücke bauen und sie ins Boot holen (und dabei die Metaphern klar kriegen), nur ist das dann nicht so spannend zum Lesen.
Markt ist gesetzt und alles andere ist Beilage 😖
Wer Leute adressieren möchte, die mit langen Liftfahrten in den 738. Stock erreichbar sind, muss scheinbar Opfer darbringen. Also wirft Levermann unter den Bus, was er für entbehrlich hält (die Kämpfe anderer Leute), und hofft wohl, damit ein Gefühl von Mitte zu erzeugen (Schaut, mega flexibel und null dogmatisch! Mögt ihr uns jetzt mehr als wenn wir euch die Wahrheit sagen?): Nicht nur wird konsequent zu Ende Gedachtes wie Degrowth gebasht (obwohl Wachstumskritik nach meinem Verständnis einen ziemlich ähnlichen Shift ins qualitative Wachstum anregt? Ah nein, das haben wir ja umgelabelt, sorry); Moral wird gleich als Ganzes abgeschrieben, so wie eigentlich alles, was dem Markt nicht huldigt (mein täglich Smith gib mir heute, geheiligt sei dein Money) oder die Frechheit hat, das Auswalzen zerstörerischer Profitlogik bis in jeden hintersten Winkel jeden Lebens zu kritisieren.
Dann wird noch das abgegriffene Zerrbild von umweltbewussten Menschen als Intolerante bemüht, die angeblich allen ihre Werte aufdrängen wollen. Dass Greenpeace den ersten FCKW-freien Kühlschrank finanzieren musste, weil die Industrie zu faul bzw. profitgeil war, und dass die hach so ideologischen Veganen mit ihrer blöden Moral erst eine Nachfrage nach Tierproduktalternativen schaffen, geht da ein bisschen unter (und wird dann, ich extrapoliere, wohl mit passender Terminologie wieder in die eigene Erzählung eingeflochten – Wettbewerb der Ideen, innovatives Wachstum, Startup-Dynamik, etc. pp. – aber hat nun der Kapitalismus diesen Shift ermöglicht oder sich einfach das überzeugungsgetriebene Engagement einverleibt?).
Dass der Markt regelt und ein ganz tolles Instrument ist, ist für Levermann gesetzt. Also muss er seine ganzen Frames und Vorschläge darum herum bauen. Dass der Markt (geheiligt sei deine Börse, kleb eine Zahl auf alles) uns in die Scheisse geritten hat, kann nicht daran liegen, dass Anreizsysteme systematisch Bullshit produzieren, weil sie unterkomplex sind, sondern das Marktdesign stimmt nicht, oder die Grenzen, oder die Formulierung, oder … – kann man so sehen, könnte man aber auch kritisch hinterfragen. (Der Fairness halber muss man sagen: Würden wir Konzernmacht und Externalisierung wirklich fixe Grenzen setzen (wie Levermann fordert), könnte der Markt wirklich eine Kraft des Guten sein. Da das aber the Anreizhebel of all Anreizhebels ist, also das Grundversprechen, dünkt mich das genauso utopisch wie die Abschaffung des Marktes.)
Politik ist auch nur Mathe 🤪
Je weiter sich das Thema von Klima und Mathe/Physik wegbewegt, wo Levermann zu Hause ist und ergo trittsicher, desto mehr naive Takes gibt er zum Besten. Staatlicher Machtmissbrauch ist eigentlich auch nur Selbstverstärkung, die Schweiz hätte der 1:12-Initiative schon zugestimmt, wenn sie 1:100 gewesen wäre, und Netzwerkeffekte sind Asymmetrien im Anreizsystem. Dann noch etwas Medien- und Bubblekritik unterheben, und der Acker ist bestellt. Doch wer abseits der eigenen Expertise ackert, täte gut daran, sich etwas genauer mit den Fundamenten auseinanderzusetzen. Oder mal den Nachbar zu fragen.
Der zum Beispiel sagen würde: Politische Prozesse sind nicht Mathematik, sondern haben eigene Logiken, bei denen u.a. Machtstrukturen, psychologische Faktoren oder historische nationale Entwicklungen eine Rolle spielen. Es gibt, der einen oder dem anderen dürfe es bekannt sein, Disziplinen wie Politologie, Soziologie, Psychologie, Geschichte und weitere, die sich mit gesellschaftlichen Prozessen befassen, aber ah sorry, ich vergass, Geisteswissenschaften sind ja hinfällig und warten nur darauf, dass Konzepte aus der Wirtschaft und Ad-hoc-Beurteilungen über sie gestülpt werden und sie geknebelt zum Hintereingang rausgetragen werden.
Je politischer das Buch, desto mehr Gegenbeispiele drängen sich auf, z.B.:
- All die zurückgenommenen und verwässerten Grenzen (Stichwort Neuwahlen) machen "Grenzen, aber dieses mal fix!" zu einem Fall von magischem Denken: Aber beim siebten Versuch kommt’s anders raus, wenn nur der Vibe stimmt!
- Die Unpopularität der CO₂-Bepreisung und damit ihre Undurchsetzbarkeit setzen ein dickes Fragezeichen hinter das beliebteste Instrument der Ökonomenzunft.
- Leute stimmen ständig aus Gründen sozialer Zugehörigkeit oder diffusen Ängsten gegen ihre ökonomischen Interessen (siehe Abstimmungen zu Erbschaftssteuern in der Schweiz, rituell ca. alle fünf Jahre wiederholt).
Vielleicht wär’s eine gute Idee, die Erkenntnisse von Politologinnen und Soziologen zu studieren, bevor man ein Buch schreibt?
Fazit
Wer schon im Thema ist (Klimamodelle, Kipppunkte, Treibhauseffekt, Klimasensitivität etc.), erfährt wenig Neues. Wer sich interessiert, kann das erste Drittel lesen oder sich im Netz schlau machen.
Dazu serviert Levermann zwei Drittel allerlei aus Wirtschaft, munterer Metaphernjonglage und Meinungen zur einen richtigen Politik. Aber damit lässt sich der Klimakomplex nicht aufbrechen.
Plötzlich sind wir tief in der Politik und müssen die Wirtschaft fixen, um das Klima zu fixen, und so richtig überzeugend ist das leider nicht. Schöne Worte sind schön, aber auch vergeblich. Grenzen ohne Garant sind Wunschdenken. Das ganze linksliberale Schönwetterdenk zerschellt wie immer an der Machtfrage, auch wenn man sich total Mühe gibt, sie mit extrem schönen Metaphern zu ignorieren. Ich wünsche noch viel Erfolg mit der Werbesendung für die letzten echten Liberalen, die doch bitte zur Einsicht kommen mögen, echt liberal zu sein und nicht opportunistisch.
Für die eine grosse Idee wird der ganze Rest (die Moral; soziale und politische Prozesse; alle Ansätze, die woanders ansetzen) unter den Bus geworfen und die Energie von ca. 17 Reaktoren verwendet um auszuführen, dass wir unbedingt den Markt weiterkneten müssen, aber dieses Mal mit mehr Schmackes und dem richtigen Vibe.
Und schliesslich: Der Humor ist nicht meiner. Und die Schreibe reisst’s dann auch nicht raus. Schon fast Anerkennung verdient hingegen der Versuch, mit Mathe- und BWL-Nerdereien König der Herzen zu werden, aber wer schon mal abseits einer technischen Hochschule mit Menschen über Mathe gesprochen hat, mag erahnen, dass das ein hoffnungsloses Unterfangen ist.