Bruderer: Von gelassener Ignoranz zu optimistischem Realismus

Republik 24.9.19: Die grosse Überforderung

Urs Bruderer versucht in seinem Essay ausgehend vom Persönlichen (“jaja, Klimawandel, wird schon irgendwie gehen”) zu verstehen, warum dem drohenden Klimawandel mit so viel Ignoranz begegnet wird. Dafür geht er auf die Forschung, psychologische und gesellschaftliche Mechanismen ein und adressiert diverse Punkte, die in Diskussionen übers Klima immer wieder aufpoppen.

Angst und Apokalypse

Ich habe die Klimakatastrophe viele Jahre kaum beachtet. Und hielt das für die klügste Entscheidung. Seit Menschen denken können, warnen sie vor ihrem Ende. […. Doch] eines verbindet alle Nachrichten vom Ende der Menschheit: Sie waren allesamt Enten.

Der Topos Weltuntergang (und eine gewisse Lust an der Vorstellung) ist nicht neu. Er ist ein Bestandteil von Religionen und wird in der Politik des öfteren heraufbeschwört: Atomkrieg, Waldsterben, Ozonloch, Vogelgrippe… (siehe dazu auch das Interview mit Robert Habeck)

Deshalb schien eine abgeklärte Gelassenheit auch dem Autor lange Zeit die beste Haltung, denn wäre nicht alles andere Alarmismus?

Wir haben uns an die Dauernachrichten vom Klimawandel gewöhnt. Sie sind für uns nicht mehr als Hintergrundmusik zu einem angenehmen Leben.

Dafür muss man allerdings die Fakten ausblenden. Und die sind eindeutig: Die Vorhersagen der Forschung zum Klimawandel sind weitestgehend eingetroffen.

Woher diese Ignoranz?

[N]ie würden wir in ein Flugzeug steigen, wenn 19 von 20 Experten behaupten würden, dass es wohl abstürzt. Und nur einer nicht. Warum dieses verrückte Verhalten?

Ein Grund dafür ist, dass der Klimawandel ungleich komplexer als andere Bedrohungen ist. Bei FCKWs ging um eine Stoffgruppe, die durch andere Stoffe ersetzt werden konnte. Sogar die Abwendung eines Nuklearkriegs war vergleichsweise einfach zu handhaben, da der Rahmen und die Regler klar waren.

Der Klimawandel ist ein Clusterfuck. Fossile Brennstoffe sind in unsere Leben eingewoben. Und die Auswirkungen, die ihr Verbrennen zur Folge haben, setzen erst Jahrzehnte später ein. Die Verantwortung ist “über die komplette Menschheit verteilt”. Wie soll ein ein einzelner Mensch auf diese Überforderung reagieren?

Die psychologische Komponente

Zuerst bemüht Bruderer die fünf Phasen der Trauer nach Elisabeth Kübler-Ross, ursprünglich aufgestellt zum Umgang mit dem Tod: Nicht-wahrhaben-Wollen, Zorn, Verhandeln, Depression, Akzeptanz. Also abgeklärt in den Untergang?

Auftritt Peter Schneider, Psychoanalytiker. Er schlägt als Modell die kognitive Dissonanz vor: Wir wissen, dass der Klimawandel real ist, aber wir wollen auch unser Leben leben. Also lösen wir den Wahrnehmungs-Konflikt dadurch auf, dass wir die schmerzhafte Erkenntnis abtönen: Wird schon nicht so schlimm kommen. Und wir können ja eh nichts machen. Krise war doch schon immer.

Privat und politisch

Peter Schneider ist gut darin, den Finger in die Wunde zu legen:

[Mit der Frage, wie ich mein Verhalten angesichts des Klimawandels ändern soll,] wird ein globales, transnationales Problem ins Private gewendet. CO₂ wird dabei zu einer Art Universalwährung. Ein Flug nach London verursacht soviel CO₂ wie 16,5 Stunden Pornostreamen oder 3000 Raschelsäckchen.

Stimmt natürlich. Alles dem Individuum, den Konsumierenden anzuhängen, bringt nichts. Sondern:

[Es] multipliziert die Zahl der gegenseitigen Vorwürfe. Die heuchlerische Jugend, die doch fliegt; die subventionierten Bauern und ihre Methan furzenden Kühe – keiner, der kein Arschloch ist. Das führt zu einer Explosion der entpolitisierten Mikroklassenkämpfe. Jeder gegen jeden im Namen von uns allen. Die Leute entsolidarisieren sich, dabei müssten sie solidarisch werden, um politische Massnahmen für das Klima zu beschliessen.

Also was tun? Peter Schneiders Vorschlag:

uns kognitive Dissonanzen zugestehen und nicht so tun, als ob es nur eine planetenschonende, gute Lebensform gäbe.

Alles richtig. Mit einem grossen Blame Game ist viel Unmut geschaffen, dem Klima aber nicht geholfen. Mir persönlich ist diese Art der Psychologisierung und Dekonstruktion in ihrer Konsequenz aber zu nihilistisch – am Schluss bleibt nur, den Untergang zu akzeptieren. Aber wie soll man jemanden dazu bewegen, eine andere Sicht zu erwägen, wenn man nicht auf das persönliche Verhalten verweisen kann? Aus der Psychologie wissen wir, dass Argumente nur ankommen, wenn sie auch emotional berühren. Ein pur rationales Argument, sei es auch perfekt formuliert, vermag niemanden umzustimmen – was ja gerade auch Thema des ganzen Essays ist.

Ich nehme mit:

  • Privat und politisch – schwierig.
  • Kognitive Dissonanzen.

Kommunikation: positiv oder negativ?

Bruderer wendet sich nun der Vermittlung des Klimawandels zu. Und macht das umgekehrte Argument vieler Kommunikationspsychologen: Wenn Berichte über die Klimakrise immer mit einer positiven Note enden (es ist schlimm; aber es ist noch möglich, umzusteuern), könne man sich der Dringlichkeit leichter verwehren. Wachgerüttelt habe ihn das Negativszenario: Wenn wir nichts tun, steuern wir auf eine schreckliche Welt zu.

Braucht es positive Töne oder negative Töne, damit eine Botschaft ankommt? Oder vielleicht beides? Oder kommt es schlicht darauf an, wo jemand gerade steht? (Ich würde zu letzterem tendieren.)

In der Folge legt der Autor dar, dass auch schon die angepeilten 1.5° – 2° Erderwährung ziemlich drastische Folgen haben werden. Das Akzeptable ist eigentlich auch schon schlimm.

(zur Frage der Kommunikation siehe auch Harald Welzer)

Politik

Eine kurze Visite bei der Politik darf nicht fehlen. Hier regiert der Realismus. Kleine Schritte. Die eigentlich viel zu klein sind.

So here we are

Wenn die Erderwärmung also deutlich unter 2 Grad bleiben soll, braucht es, kurz gesagt, mehrere Revolutionen: (1) eine radikale Umwälzung im Energiebereich – von den Fossilen hin zu Erneuerbaren; (2) eine weitgehende Neuausrichtung der Land- und Forstwirtschaft zur Senkung der CO₂-Emissionen; (3) eine komplett neue Technologie zum Absaugen von CO₂. [….] Drei Revolutionen in 30 Jahren. Wie zum Teufel soll das gehen?

Doch der Text endet doch noch mit einer hoffnungsvollen Note (trotz der zuvor angebrachten Skepsis gegenüber allzu optimistischer Kommunikation): Veränderung kann plötzlich schnell gehen. Viel schneller als die Politik sich normalerweise bewegt. Radikalen Realismus gibt es in pessimistisch, aber auch in optimistisch:

[D]ie Gesellschaft ist der Politik beim Klimawandel in den letzten Monaten davongeeilt. Für mich war das eine doppelte Überraschung. Erstens, weil sie mich mitgenommen hat – und ich meine gelassene Ignoranz für das Thema aufgeben musste.

Privates und Politik gehen Hand in Hand:

Ich habe meine freundliche Verachtung für Leute abgelegt, die glauben, sie könnten die Welt verändern, indem sie kein Fleisch essen. Die Debatte um Flugscham hielt ich anfangs für lächerlich. Heute glaube ich, dass sie uns weiterbringt. Weil sie der Politik signalisiert, dass eine Flugticketabgabe gesellschaftlich akzeptiert ist. Ich freue mich heute über jedes Zeichen dafür, dass Menschen ihre deprimierend geringe Verantwortung für den Klimawandel wahrnehmen. Nicht nur, indem sie klimafreundliche Parteien wählen. Sondern auch im Alltag, indem sie ihren CO₂-Ausstoss verringern. Sogar wer nur darüber redet, trägt die Entwicklung ein wenig weiter.

Und schliesslich: Realismus, aber nicht Nihilismus.

Geht es schnell genug? Keine Ahnung. Liest man die aktuellen Papiere der Klimaforschung, ist ein Erfolg alles andere als sicher. Nur, denke ich, ist der Klimawandel keine tödliche Diagnose. Kippt das allgemeine Denken, sind schnelle, grosse Veränderungen möglich. Ausserdem macht es keinen Sinn, vom Nicht-wahrhaben-Wollen direkt in Depression oder Akzeptanz zu verfallen. Wir müssen beim Verhandeln bleiben.

Kim   •   2.1.2021