Ökologischer Fussabdruck: Ist das meiner?

Vor fast 20 Jahren habe ich das erste Mal vom ökologischen Fussabdruck gehört. Auch Umweltorganisationen verwenden ihn, muss also was dran sein. So hat er sich in mein Bewusstsein getrampelt und ich habe ihn nie gross hinterfragt. Leuchtet ja auch ein: Mein Handeln hat Auswirkungen auf die Umwelt.

Als ich mich vermehrt und vertieft mit Klimathemen zu befassen begann, schien der Fussabdruck ein guter Einstieg, um besser zu verstehen, wo das Problem liegt – mein Problem. Ich habe also ein paar Apps benutzt, die mir folgende Zahlen angespuckt haben:

Footprint Apps

Allerdings lese ich auch immer wieder, der Fussabdruck sei ein PR-Trick von Ölkonzernen. Was ist da dran?

Wie sinnvoll ist das Konzept des ökologischen Fussabdrucks?

Die Apps loben, dass ich ein bisschen unterm Durchschnitt liege – wäre allerdings auch komisch, wenn weitgehender Verzicht auf Auto, Fliegen und Fleisch sich nicht niederschlagen würden. Eine Augenbraue geht allerdings hoch beim Betrachten der Unterschiede zwischen den Apps:

  • Wohnen kriegt in zwei Apps 2t CO₂ pro Jahr, einmal 3t. – OK, vielleicht durch unterschiedliche Parametrisierung oder Verrechnung erklärbar.
  • Ernährung einmal 4t, zweimal 1t – bitte was!?
  • Und was macht eigentlich App Nummer 4? Warum 5t Durchschnitt, wo die anderen 14t angeben?

Um nicht gleich die ganze Kindschaft (alle Rechner) mit dem Bade auszuschütten, schliesse ich also App Nummer 1 (zu US-zentriert?) und Nummer 4 aus (Beschränkung auf Inland-Emissionen). Mit den Zahlen von App 2 + 3 gehe ich tief in mich und ändere… ja was eigentlich?

  • In eine Mietwohnung mit Wärmepumpe statt Gasheizung ziehen, weil das gut für meinen Fussabdruck ist?
  • Mir Kaffe, Wein und Schokolade vom Mund absparen, während die Fleischindustrie weiter Billigfleisch produziert?
  • Möglichst auf alles verzichten, das Spass macht (Urlaub, Kino, auswärts Essen)?

Und was würde das dann bringen?

Spätestens an diesem Punkt ist klar: Der ökologische Fussabdruck ist keine grosse Hilfe, um die Klimawende herbeizuführen. Wenn’s hoch kommt, verhalte ich mich ein Drittel besser als der Durchschnitt. Gut gemacht, momoll! Problem: Das sind immer noch zwei Drittel zu viel. Und, noch wichtiger: Wer überzeugt alle anderen? (Zumal mir der Verzicht nicht sonderlich weh tut, weil er eh zu meinem Lebensstil passt.)

Denselben Schluss legen folgende Schlaglichter und Überlegungen nahe:

  • Sogar Obdachlose haben einen Fussabdruck von 8.5 t CO₂ pro Jahr¹
  • Um sich für öffentlichen Verkehr oder Velos entscheiden zu können, muss erst mal die nötige Infrastruktur vorhanden sein (‌I can take public transit because there is public transit.²)
  • Beim Essen und Wohnen spielen neben dem Willen ebenfalls Verfügbarkeit und Preis eine grosse Rolle.
  • Eine Schweizer Studie beziffert den möglichen Effekt freiwilliger Verhaltensänderung auf 20% Einsparung.³
  • Das Problem: Solang fossile Energien die Grundlage der Energieversorgung sind, ist es unmöglich, nachhaltig zu leben.¹

Zugespitzt: Verhaltensänderung ist – wenn’s hoch kommt – ein Drittel der Lösung. Mein Lebensstil und das Klima hängen nicht direkt zusammen (was gleichzeitig befreiend und entmutigend ist).

Die Geschichte des ökologischen Fussabdrucks

Das Konzept des carbon footprints wurde in den 90er-Jahren von Forschern geprägt⁴. Breit bekannt wurde es aber durch den Ölkonzern BP, der in den 2000ern eine Menge Energie (sehr ziemlich sicher fossile) in PR investierte. Das Ziel: die Aufmerksamkeit auf die individuelle Verantwortung lenken. Auch Exxon und Chevron betreiben ein ähnliches Framing⁵.

Der Trick ist ein psychologischer Doppelpack aus saurem Apfel mit dran getackertem Schoggiriegel: Einmal schlechtes Gewissen gefällig? Kannst du haben, du Schuft! Nimm das, moralisches Selbstverständnis! 👊 – Und hier haben wir gleich ein Pflaster für dich! 😙 Das Pflaster kommt in Form einer Handlungsoption: Jäte einfach in deinem Gärtchen, dann bist du fein raus.

Das trifft auf fruchtbaren Boden, weil wir nicht gern darauf hingewiesen werden, dass unser Selbstbild und die Realität auseinander laufen; dazu gibt es uns ein Scheissgefühl, über Probleme nachzudenken, die uns unsere begrenzte Macht vor Augen führen. In so einem Fall erwägen wir auch gern halbbatzige Lösungsvorschläge. Die Öllobby serviert uns also einen Ausweg aus unserer kognitiven Dissonanz auf dem Silbertablett – total uneigennützig, natürlich. Gut gespielt, leider:

The genius of the “carbon footprint” is that it gives us something to ostensibly do about the climate problem. No ordinary person can slash 1 billion tons of carbon dioxide emissions. But we can toss a plastic bottle into a recycling bin, carpool to work, or eat fewer cheeseburgers.¹

Die daraus resultierende Verantwortungsverlagerung vom System zum Individuum wird auch bei der ersten Episode von A Matter of Degrees thematisiert. Es geht nicht mehr um Verhältnisse, sondern um mein Verhalten. Ich werde auf meine unmittelbaren Handlungsoptionen als Konsument beschränkt: Kaufen, reinziehen, besitzen. Und sehe mich folglich nicht als Akteur im politischen System.

Dafür darf man ruhig etwas wütend sein auf die Ölkonzerne und ihre Besties in Werbung, Finanzen und Politik, die mit profitieren:

Wenn ich mich zusammenreisse und ein bisschen klimafreundliche Selbstoptimierung betreibe (und gegen andere Leute, die es mir nicht gleichtun, den Mahnfinger erhebe), kommt die Sache schon gut. [….] Wollen wir in der Klimadebatte vorwärts kommen, müssen wir darum von der neoliberalen Nebelpetarde der individuellen Verantwortung ablassen und wieder mehr über das grosse Ganze reden. Über Interessen, Macht und Einfluss von Grossunternehmen und des Grosskapitals.⁶

Ratschläge von Konzernen, deren primäres Interesse Profit aus fossilen Energieträgern ist, kann man getrost ignorieren. Das “zeig mir deinen Fuss und ich sag dir ob du ein guter Mensch bist”-Spieli lenkt vom eigentlichen Problem ab.

Da wären dann auch die anderen zwei Drittel zu holen: 70% der Treibhausgasemissionen stammen von fossilen Energieträgern⁷. Die kriegen wir nur weg, wenn wir sie ersetzen. Und dafür braucht es zwingend Politik.

Fazit

Wie an dieser Stelle bereits geschrieben (Der Masterplan), geht es nicht um entweder oder, null oder hundert, sondern um das Zusammenspiel – und um die richtige Balance. Auf eine Formel gebracht (frei nach Rainer Grießhammer): Verhalten oder Verhältnisse ändern? Natürlich muss man beides.

Individuelles Verhalten und die Verhältnisse, in denen wir leben, beeinflussen sich gegenseitig:

  • Offensichtlich ist, dass die Infrastruktur und die Attraktivität der vorhandenen Optionen Vorbedingungen für unser Handeln sind – man vergleiche etwa eine Stadt mit gut ausgebauter Metro mit einer ohne, oder die Elektroautoquote in Norwegen (überall Ladestationen, Benziner teuer) mit der in anderen Ländern, oder die Velos in Kopenhagen mit Schweizer Städten, wo man als Velofahrerin mit Autos oder Fussgängern um Platz kämpft.
  • Andersrum wirkt die soziale Ansteckung (ja, das heisst wirklich so in der Psychologie): Ideen, Werte und Gewohnheiten werden von Leuten rundherum wahrgenommen und können sich verbreiten – z.B. ist es wahrscheinlicher, dass jemand zur Veganerin wird, wenn sie viele Vegis um sich hat. Und das veranlasst wiederum Restaurants dazu, mehr vegane Menus anzubieten.

Unser Verhalten ist also nicht irrelevant. Es kann andere beeinflussen und das hat (irgendwann) auch eine Anpassung der Strukturen zur Folge. Das heisst aber nicht, dass Verhältnisse und Verhalten gleich wichtig sind. Individuelles Verhalten kann zwar langfristig Druck ausüben, aber die Zwänge des Faktischen vermag es nicht zu sprengen.

Sich der Auswirkungen des eigenen Verhaltens bewusst werden: yes please (von mir aus durch Berechnung eines ökologischen Fussabdrucks). Aber auch: sich der Verhältnisse bewusst werden, in denen die eigenen Handlungen stehen. Nämlich: Die Optimierung meines Fussabdrucks hat viel weniger Einfluss aufs Klima als bestehende Regeln (z.B. Verbot von Ölheizungen) und Infrastrukturen (z.B. funktionierender öffentlicher Verkehr). Auf bessere Umstände zu pochen ist daher ungleich wichtiger, als das eigene Gärtchen zu pflegen.

Am Ende zählt der Effekt. Und der wird gemessen in ausgestossenen Tonnen CO₂-Äquivalenten weltweit, nicht in gefühlter Anstrengung bei der persönlichen Fussabdruckoptimierung. Deshalb sollten wir nicht das Moralspiel der fossilen Energiekonzerne mitspielen und die Menschen um uns herum damit bewerfen (looking at you, WWF). Das sind Nebelpetarden, Verhältnisblödsinn, ein Narrativ mit einem Framing, das davon ablenkt, was wirklich geschehen muss: Fossile Energien müssen weg.

Der ökologische Fussabdruck hat seine Berechtigung – auf dem Arsch der Öllobby.

Weiterlesen

  1. Mashable (Mark Kaufman): The carbon footprint sham
  2. Guardian (Rebecca Solnit): Big oil coined ‘carbon footprints’ to blame us for their greed. Keep them on the hook
  3. SRF (Klaus Ammann): Wirkung des freiwilligen Klimaschutzes wird teils überschätzt
  4. Wikipedia: Carbon Footprint; Origin of the concept
  5. Studie zu Exxons Rhetorik/Framing – Artikel dazu bei Vox und Rolling Stone
  6. Marko Kovic: Musst *du* Klimawandel stoppen? Nein.
  7. Our World in Data: Greenhouse Gas Emissions, CO2 emissions by fuel – auf 70% Emissionen durch fossile Energie kommt man, wenn man die CO₂-Emissionen 2020 für Kohle (14 Mrd. t), Öl (11 Mrd. t), Gas (7 Mrd. t) in Prozent umrechnet (40%; 32%; 21%) und mit 74.4% (Anteil CO₂ an Emissionen insgesamt) multipliziert (30%; 24%; 16%)
Kim   •   6.2.2022   •   abgelegt unter  
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